Erinnern Sie sich an den Höhepunkt der «Positive thinking»-Bewegung in den 2000er-Jahren? Plötzlich schien es eine simple Lösung für alle Probleme des Lebens zu geben, egal, welchen Bereich sie auch betrafen. Durch eine konstante positive Beeinflussung des Unterbewusstseins – egal, ob durch Affirmationen oder durch Visualisierungen – sollte so eine höhere Zufriedenheit und Lebensqualität erzielt werden.
Glücklich jene, denen dies gelang. Weniger Glück hatte allerdings die Mehrheit der Menschen, die es trotz aller Bemühungen nicht schaffte, sich auf diese Weise aus Sorgen, Schmerzen oder Depressionen zu lösen. Und Gefahr lief, sich noch zusätzlich als Versager zu fühlen.
Natürlich hat es durchaus Vorteile, wenn man in schwierigen Situationen hoffnungsvoll bleiben kann, aber diese Fähigkeit wird von vielen anderen Faktoren wie der Genetik, der Erziehung oder der Resilienz beeinflusst. Das zwanghaft positive Denken gehört sicher nicht dazu.
Heute erlebt das Thema Essen einen ähnlichen Hype wie das „Positive Denken“ und ist zu einer Ideologie geworden. Eine sogenannt gesunde Ernährung kann demnach nicht nur auf unser Wohlbefinden und unsere Gesundheit einen positiven Einfluss haben. Sie soll, wenn es nach den unzähligen Ernährungsexperten geht, die ihr „Wissen“ in Ratgebern oder TV-Sendungen verbreiten, sogar Wunder bewirken. Egal, ob es darum geht, entzündliche Prozesse im Körper zu verhindern oder gar Krankheiten wie multiple Sklerose oder Krebs zu heilen. Das gipfelt dann darin, dass Bücher wie „Krebs mag keinen Tee“ oder „Krebszellen mögen keine Himbeeren“ zu Bestsellern werden.
„Es ist unbestritten, dass eine gesunde Ernährung einen grossen Einfluss bei vielen Wohlstandskrankheiten hat, wie zum Beispiel bei Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Gicht, Gelenk- und Nierenerkrankungen“, sagte der Ernährungsmediziner Hans Hauner kürzlich in einem Interview im Magazin „Brigitte“.
Unbestritten sei auch, dass gesättigte Fette und Transfettsäuren Entzündungen im Körper anfachen könnten. Dagegen haben Vollkornprodukte, pflanzliche Kost oder auch Fisch einen positiven Einfluss. Nur, was für den einen eine wohltuende Wirkung hat, kann dem andern üble Magenschmerzen verursachen, wie zum Beispiel der Genuss von Rohkost, die vor vielen Jahren noch als „Superfood“ galt.
Dass gesund Essen sogar zum Lebensinhalt wird, passt perfekt zum herrschenden Selbstoptimierungswahn: Esse das Richtige, dann bist du auf der sicheren Seite! Umgekehrt stimmt dies, nach diesem simplen Denksystem, auch: Pommes-Fresser bekommen die Quittung, früher oder später!
Vielleicht täte es uns gut, uns wieder einmal mit anderem zu beschäftigen als mit Superfoods, Nahrungsergänzungsmitteln und Wunderdiäten. Denn das Leben ist (zum Glück) nicht berechenbar, auch die „braven“ Esser sind nicht vor Krankheiten geschützt. Und sterben müssen wir alle einmal. Da nützen dann weder Gojibeeren noch Matcha-Tee.