«Hier und Jetzt»: der Blog

Den ganzen Tag macht sich der Mensch Gedanken

Den ganzen Tag macht sich der Mensch Gedanken. Meist alles andere als erbauliche: «Meine Nachbarin hat mich heute nicht gegrüsst. Hat sie was gegen mich? Es kratzt im Hals. Hoffentlich werde ich nicht krank. Was wird mein Chef denken, wenn ich schon wieder fehle? Ich bin eine miserable Angestellte.» Dieses Gedankenradio läuft ständig im Hintergrund, während wir essen, arbeiten, die Zähne putzen oder versuchen einzuschlafen. Der englische Mediziner und Bestsellerautor Russ Harris nennt es den «Ojemine-Sender». Dieser warnt uns vor möglichen Gefahren, erinnert uns an schlechte, vergangene Ereignisse oder teilt uns mit, was alles mit uns nicht stimmt.

Doch weshalb sendet unser Hirn ständig dieses unerfreuliche Programm? Russ Harris erklärt das Phänomen in seinem Buch «Wer dem Glück hinterherrennt, läuft daran vorbei» durch die Evolutionsgeschichte. Unser Verstand sei darauf ausgelegt, sich Sorgen zu machen. Unseren Vorfahren in der Wildnis half das, zu überleben. Die Gefahren haben sich jedoch gewandelt: Statt vor dem Säbelzahntiger fürchten wir uns heute davor, unseren Job zu verlieren oder an Krebs zu erkranken. Tief verwurzelt ist bis heute die Angst, den Erwartungen anderer nicht zu entsprechen. Auch das hat einen evolutionären Grund: Für die Urmenschen bedeutete es den sicheren Tod, aus der Sippe ausgeschlossen zu werden.

Erst zulassen, dann handeln

Leider hat das Ojemine-Radio keinen Knopf zum Ausschalten. Also wenden wir andere Strategien an: Wir schieben die schlechten Gedanken und Gefühle von uns, ignorieren sie, lenken uns von ihnen ab, betäuben sie oder versuchen sie durch positive Gedanken zu ersetzen. Aber: «Diese Kontrollstrategien funktionieren meist nur kurzfristig», sagt Klaus Bader, Leiter der Verhaltenstherapie-Ambulanz der Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel. «Langfristig vergrössern und verlängern sie häufig das Leiden.» Mit anderen Worten: Je krampfhafter wir versuchen, das Radio zum Verstummen zu bringen, desto lauter dudelt es vor sich hin.

Diesen Teufelskreis versucht ein Ansatz aus der Psychotherapie namens ACT zu durchbrechen. ACT steht für Akzeptanz- und Commitment-Therapie (engl. commitment = Engagement). Deren Vertreter schlagen vor, negatives Denken und Fühlen zuzulassen, anstatt zu bekämpfen. «Das bedeutet nicht, die Zähne zusammenzubeissen und das Leiden passiv zu erdulden», sagt der Psychotherapeut Klaus Bader. «Sondern offen zu sein für alles, was gerade an Erfahrungen da ist.» Kommt also zum Beispiel Angst auf, kann man versuchen zu beobachten, wo die Empfindung zu spüren ist, wie sie sich anfühlt und ob sie sich verändert. So lässt sich erkennen, dass solche Gefühle von allein kommen und auch wieder von allein verschwinden.

Bei ACT geht es ausserdem darum, sich um das zu kümmern, was einem wirklich am Herzen liegt – auch wenn sich das nicht immer angenehm anfühlt. «ACT hilft den Menschen zu formulieren, was ihnen wichtig ist im Leben, und diese Werte durch engagiertes Handeln zu leben», sagt Klaus Bader. Werte wie «Dankbarkeit», «Familie» oder «der Umwelt Sorge tragen» dienen als Leuchttürme, die dem Leben auch in schwierigen Zeiten eine Richtung geben.

ACT (ausgesprochen wie das englische Wort «act» = handeln) wurde vom amerikanischen Psychologieprofessor Steven Hayes und Kollegen in den 1980er- und 1990er-Jahren entwickelt, um psychische Störungen zu behandeln. Wie erfolgreich der Ansatz ist, zeigen knapp 200 weltweit durchgeführte Studien. Insbesondere bei Depressionen, Angst- und Essstörungen, Drogenmissbrauch, chronischen Schmerzen, psychotischen Symptomen und bei Partnerschaftsproblemen konnte die Wirksamkeit nachgewiesen werden. ACT eignet sich aber nicht nur für Patienten mit psychischen Störungen, sondern für alle Menschen. «Menschsein bedeutet auch Leiden», sagt der Winterthurer Psychiater und ACT-Trainer Jan Martz. «ACT hilft, besser mit dem Leiden umzugehen und ein erfülltes Leben zu führen.»

ACT ist vor allem in den USA, Australien, Grossbritannien, Skandinavien, Spanien und den Niederlanden weit verbreitet. Auch in der Schweiz fasst die Therapie langsam Fuss. Pioniere sind die Universitären Psychiatrischen Kliniken in Basel, wo ACT im Jahr 2012 in das Behandlungskonzept mit aufgenommen wurde. Heute arbeiten weitere Spitäler wie etwa das Psychiatriezentrum Münsingen BE oder die Klinik Barmelweid AG mit ACT, ebenso eine wachsende Zahl niedergelassener Therapeuten mit eigener Praxis.

Zudem existieren viele Selbsthilfebücher, die sich an ein breites Publikum richten. Gerade hat eine Studie der Universität Basel gezeigt, dass das Durcharbeiten eines ACT-Buches Stress, Burn-out und Depressionssymptome reduzieren kann.

Die ACT-Therapie umfasst verschiedene Elemente, die alle miteinander verbunden sind. Akzeptanz ist eines davon. Ziel ist dabei nicht, schlechte Gefühle nie mehr zu bekämpfen oder zu vermeiden. Solche Kontrollmethoden sind laut dem Psychotherapeuten Jan Martz vor allem dann problematisch, wenn sie einen davon abhalten, Dinge zu tun, die einem wichtig sind. Dies ist etwa dann der Fall, wenn jemand gerne Freundschaften pflegen würde, aber aus Angst vor Ablehnung sich mit niemandem verabredet. Oder wenn jemand, der gerne reist, aus Angst vor dem Fliegen zu Hause bleibt. Geübt wird in der ACT-Therapie auch die sogenannte Entschärfung.

Dabei geht es darum, sich von seinen negativen Gedanken nicht mehr so stark einnehmen zu lassen. «Oft verschmelzen wir mit unseren Gedanken. Wir glauben, sie seien die einzige Wahrheit», sagt Jan Martz. «Unsere Gedanken sind jedoch lediglich Geschichten, die wahr sein können oder auch nicht.» Ob sie der Wirklichkeit entsprechen, ist für ACT-Therapeuten wie Jan Martz gar nicht zentral. «Wichtig ist vor allem, ob sie hilfreich sind», sagt er. «Sind sie es nicht, lohnt es sich, die Gedanken zu entschärfen.» Das heisst, sie als das anzusehen, was sie sind: Worte, die einem gerade durch den Kopf gehen.

Um die Entschärfung zu erleichtern, stellt ACT verschiedene Techniken bereit. Kommt etwa der Satz «Ich bin wertlos» auf, kann man sich sagen: «Ich merke gerade, dass ich den Gedanken habe, wertlos zu sein.» So gelingt es, Abstand zwischen sich und dem Gedanken herzustellen. Manchmal verlieren wir uns regelrecht in unseren Gedanken und versäumen dabei die Gegenwart. Um das zu verhindern, kann Achtsamkeit eine Hilfe sein, ein weiterer Pfeiler von ACT. «Hier geht es darum, sich immer wieder bewusst dem gegenwärtigen Geschehen zuzuwenden», erklärt Jan Martz. Das sei oft nicht einfach und brauche Übung. «Wir Menschen neigen dazu, mit den Gedanken in der Vergangenheit oder in der Zukunft zu sein. Handlungsfähig sind wir aber nur im jetzigen Moment.»

Ist es gelungen, das innere Ojemine-Gedudel zu akzeptieren, zu entschärfen und im Alltag präsenter zu sein, kann der Mensch besser das umsetzen, was ihm wichtig ist: «Das Ziel ist, sich von seinen Herzenswünschen leiten zu lassen anstatt von seinen Ängsten», sagt ACT-Therapeut Klaus Bader.

Schritt für Schritt

Nicht immer gelinge es den Menschen, auf Anhieb zu benennen, was ihnen wirklich wichtig ist. «Werte wie Hilfsbereitschaft, Bescheidenheit oder gesunde Ernährung sollten frei gewählt sein und nicht einfach vom Elternhaus oder von der Gesellschaft übernommen werden.» Herauszufinden, ob die eigenen Werte wirklich von Herzen kommen, sei oft der schwierigste Teil, sagt Klaus Bader. Sind die Werte einmal formuliert, werden sie mithilfe des Therapeuten in konkretes Handeln übersetzt. Das bedeutet nicht, dass man gleich sein ganzes Leben umkrempeln muss. «Kleine Schritte, die keine Überforderung darstellen, genügen», sagt Jan Martz.

Eine depressive Patientin, der die Beziehung zu ihrem Mann wichtig ist, kann sich etwa vornehmen, jeden Tag einen kurzen Spaziergang mit ihm zu machen, auch wenn sie sich antriebslos fühlt. Und ein Banker, dem Fürsorge wichtig ist, muss sich nicht gleich zum Sozialarbeiter umschulen lassen. Er kann versuchen, seinen Mitarbeitern helfend zur Seite zu stehen. Oder diesen Wert in anderen Bereichen wie in der Familie umzusetzen. Nicht nur kleine Schritte, auch Fehltritte sind erlaubt, schreibt der englische Psychotherapeut Russ Harris in seinem Buch. «Commitment bedeutet, dass Sie, wenn Sie straucheln oder vom Weg abkommen – was unausweichlich ist –, einfach wieder aufstehen, sich orientieren und weiter in die Richtung gehen, in die Sie gehen wollen.»

Quelle: TagesAnzeiger, 08.12.2017

Written by geraldine

Dezember 8th, 2017 at 2:43 pm

Bauchhirn – Verdauung und Gefühle

Unser Verdauungssystem bestimmt mit darüber, ob wir uns gut oder schlecht fühlen. Verantwortlich dafür sind das Nervensystem im Darm und seine zahlreichen Verbindungen zum Gehirn. Die hundert Millionen Nervenzellen die unsere Darmtätigkeit steuern, bilden zusammen das Bauchhirn, in der Fachsprache „enterisches Nervensystem“.

Die Verbindungen des diesen mit dem Zentralen Nervensystem (von Bauch zu Kopf und umgekehrt) führen dazu, das starke Gefühle, emotionaler Stress als auch traumatische Ereignisse zu Bauchschmerzen, Krämpfen, Durchfall, Übelkeit oder Erbrechen hervorrufen können.

Angststörungen und Depressionen verändern erwiesenermassen das Tempo des Verdauungsvorgangs: Depressive tendieren zu Verstopfung, Menschen mit chronischer Angst dagegen haben häufig Durchfall.

Paul Enck vom Universitätsklinikum Tübingen und sein Team haben im Jahr 2010 belegt, dass Psychotherapie das Reizdarmsyndrom sehr effektiv lindert – besser als fast alle Medikamente.

 

Quellen:
Magazin Gehirn und Geist, 4.2012
Gabriele Moser, Leiterin Spezialambulanz gastroenterologische Psychosomatik Wien 

Paul Enck et al., Therapy Options in Irritable Bowel Syndrome.

Diagnose Krebs: Die Familie integrieren

Die Diagnose einer Krebserkrankung ist immer ein Schock. Nicht nur für die Betroffenen, sondern auch für die Angehörigen. Das ganze Lebensgefüge scheint auf einmal im Ungleichgewicht zu sein. Man weiss weder ein noch aus. Eine solche Erstreaktion ist völlig normal. Es sollte auch versucht werden, diese Gefühle, mögen sie noch so extrem sein, zuzulassen.

Die meisten Familien sind, vor einer solchen Diagnose, völlig unwissend in Bezug auf eine solche Krankheit, Behandlungsmöglichkeiten und den entsprechenden Umgang. Oftmals ist auch zu beobachten, dass man eine Therapie, so wie es der Arzt vorschlägt, möglichst schnell hinter sich bringen will, damit man „die Krankheit los ist“ und sich wieder dem so lieb gewonnen Alltag zuwenden kann. Es ist normal, dass die „Vogel Strauss-Taktik“ angewendet wird, denn es könnte ja sein, dass alles nur ein böser Traum ist.

Leider lässt es sich nicht umgehen, einen persönlichen Prozess zu durchlaufen. Und dies gilt für alle Mitglieder der Familie. Dabei darf nicht ausser Acht gelassen werden, dass nicht nur der Betroffene gefordert und von Ängsten geplagt wird, sondern auch das unmittelbare Umfeld. Man könnte sagen, dass die Familie „Co-erkrankt“. Dieser Begriff ist aus der Suchttherapie entliehen und beschreibt Personen, die dem Erkrankten nahestehen und sich mit ihm und seiner Krankheit identifizieren resp. solidarisieren.

Geht man vom Beispiel eines Ehepaares aus, wo die Frau an Krebs erkrankt. Es ist häufig folgendes Muster zu erkennen: Die Frau ist verzweifelt, hat Angst und sucht Halt. Der Mann hingegen versucht die Existenz zu erhalten. Er versucht den Alltag zu regeln und mit organisatorischen Mitteln weiter zu funktionieren. Damit das gelingt, darf er seinen Gefühlen keinen freien Lauf lassen, denn sonst verliert er die Kontrolle und entspricht nicht seinen (sich selbst gesetzten) Anforderungen und seinem Denken, einem „sorgenden Ehepartner“ gerecht zu werden. – Die Frau hingegen sehnt sich nach Zuneigung, gemeinsamer Zeit, Gesprächen und Geborgenheit. Diese Bedürfnisse können nicht durch die funktionalen Gebärden des Mannes gedeckt werden. Es lässt sich hier einfach erkennen, dass eine solche Problematik auf die Andersartigkeit zwischen Mann und Frau und deren Rollenverständnis zurückzuführen ist. Die Diagnose einer Krankheit wie Krebs ist also nicht nur eine körperliche Herausforderung, sondern auch eine grosse Herausforderung für jedes Paar.

Wir alle brauchen Gesprächspartner

Auch wenn es zu Anfang genügend Zeit für die Verarbeitung einer solchen Diagnose braucht, so soll doch nicht zu lange auf professionelle Hilfe verzichtet werden. Beide Parteien brauchen einen Gesprächspartner, brauchen Raum um ihren eigenen Gefühlen und Sorgen Luft zu machen, und wo er/sie im Mittelpunkt des Gespräches stehen. Durch eine therapeutische Begleitung, sei dies in Einzel- oder Paarsitzungen, können die gegenseitigen Vorwürfe minimiert resp. relativiert und das Verständnis für den Partner maximiert resp. optimiert werden. Hier sollte noch einmal darauf hingewiesen werden, dass nicht nur der eigentliche Patient, sondern auch die ganze Familie vor einem neuen Lebensabschnitt steht.

Falls auch Kinder in der Beziehung sind, ist es wichtig offen zu kommunizieren. Dies ist nicht immer zu Beginn möglich und es gibt auch keinen klar definierten Zeitpunkt, welcher als ideal gilt. Abhängig vom Alter der Kinder, dem Verlauf der Krankheit und dem eigenen Umgang, kann sich der zeitliche Aspekt ganz anders gestalten. Lügen Sie Ihre Kinder nicht an, wenn sie fragen, tasten Sie sich langsam und behutsam an das Thema heran und versuchen Sie, die Sachverhalte als auch Ihre eigenen Emotionen so verständlich wie möglich zu vermitteln. Hören Sie auf Ihr Gefühl und Ihre Intuition, denn diese werden Sie auch in Zukunft immer begleiten!

Die Aussage „Sie hat Krebs“, ähnlich der Aussage „Sie hat Familie“ veranschaulicht klar den Identifikationsprozess und die damit verbundenen Risiken. Eine Krankheit kann nicht wegdiskutiert und auch nicht ausgeklammert werden, dennoch darf sie nicht den Platz „eines Familienmitgliedes“ einnehmen. Die Belastung ist gross genug, ohne dass die Krankheit zum Thema Nummer Eins wird. Versuchen Sie deshalb „Entspannungsinseln“ einzubauen, in welchen Sie sich etwas gönnen, etwas mit der Familie unternehmen oder etwas aufgreifen, das Sie schon immer gerne machen wollten. Gestatten Sie nicht nur der Krankheit einen Platz in Ihrem Leben, sondern auch Ihren Wünschen, Vorstellungen, Hoffnungen und Leidenschaften. Sie werden sehen, dass Sie sich auf diese Weise vielleicht sogar mehr Raum geben als zuvor.

Written by geraldine

November 26th, 2012 at 3:47 pm